KÜNSTLERIN UND KORBMACHERMEISTERIN
Zu geflochtener Kunst
Die Begegnung mit Lore Wilds Flechtwerken ist ein sinnliches Erlebnis, verläuft nie
eindeutig und führt schnell in den Bereich der Kunst, zur grafisch gewirkten Plastik.
Ein typischer Duft – mancher mag ihn, andere nicht – begleitet jedes geflochtene
Objekt eine Zeit lang und ist natürlich am intensivsten in der Werkstatt und dem kleinen
Ausstellungsraum von Lore Wild zu erfahren.
Strichfiguren an der Wand, „Kritzeleien“ mit einer einzigen Weidenrute, geben die
spielerische Note zu erkennen, die der Flechtmeisterin eigen ist und immer wieder in
ihren Flechtwerken auftaucht, die die Betrachter nebenbei leise amüsiert und
bezaubert.
Körper? Objekt? Behältnis? Geflecht? Korb? Was bietet sich dem Blick dar?
Material und Machart drängeln sich auf: Ein Korb.
Schnell wird klar, dass korbähnliche Geflechte der üblichen Funktion entzogen und
dass Körbe ungewöhnlich kunstvoll gearbeitet sind. Schlanke pylonenähnliche
Geflechte schlängeln sich im Raum fast bis zur Decke. Ein reusenförmiges kleines
Flugobjekt schwebt bewegungslos. Ein leicht verdrehtes Objekt liegt dahin gestreckt
wie ein Akt.
„Behausung“ nennt Lore Wild selbst ihre Plastiken. Das klingt wie ein Brückenschlag in
die Urzeiten der Menschheit, als Flechtwerke existentielle Bedeutung hatten.
„Behausung“, diese Bezeichnung assoziiert Eigenschaften wie innen – außen, offen –
geschlossen, aufnehmend – abweisend, geborgen, versteckt, und andere mehr. Alle
Attribute haben einen sinnlichen Anklang.
„Behausung“, das ist eine „Hülle“, die Raum bildet und im Raum wirkt.
Der erste Blick, der alles Umgebende so schnell und zuverlässig wahrnimmt und
einzuordnen hilft, gibt keine eindeutige Antwort. Lore Wilds Geflechte wollen
erschlossen werden, von der Oberfläche bis zur Gestalt.
Das Hauptwerkzeug für die Formgebung sind die Hände der Flechterin.
Ihr Arbeitsmaterial besteht mit ganz wenigen Ausnahmen und abgesehen von
stützenden Konstruktionen aus dem, was die Natur anbietet. Die Formel der Flechterei:
Materialeigenschaften + Flechttechnik = Ausdrucksmöglichkeiten
scheint für Lore Wild noch lange nicht ausgeschöpft zu sein.
Jedes Bündel Weidenruten besteht aus gewachsenen Linien, jede für sich eigenwillig
und ausdrucksstark. Lore Wild verzwirnt, verbiegt, verdreht, verschlingt, verknotet und
verflicht diese Linien meisterlich.
Sie fügt Linien zu Flächen zusammen und formt zugleich die entstehenden Flächen zu
dreidimensionalen Gebilden oder – wie ich es nennen möchte – zu grafisch gewirkten
Plastiken. Der Verbund der geflochtenen Weiden kann straff, rhythmisch präzise und
dicht sein oder locker und transparent, je nach Intention der Flechtmeisterin. Dabei ist
jede Fläche in sich stabil, elastisch und tragfähig zugleich, egal ob es sich um das
amorphe Gebilde eines Chaosgeflechts oder um einen Einkaufskorb handelt.
Die Oberflächenstrukturen von Lore Wilds Flechtwerken zeigen sich nicht nur grafisch-
plastisch durchgestaltet, sondern werden auch farblich akzentuiert. Das nuancenreiche
Farbspektrum der Naturmaterialien, das die Künstlerin nur mit geschälten oder
gesottenen Weiden erweitert, unterstützt subtil wie homogen den Gesamteindruck.
Erst Form und Gestalt von Lore Wilds Plastiken offenbaren ihre künstlerischen
Fähigkeiten. Die Form eines plastischen Geflechts ist nicht komplett berechenbar
sondern entsteht im Arbeitsprozess. Die Proportionen aller Einzelelemente zueinander
machen eine Plastik - ebenso wie einen einfachen Korb - stimmig.
Die Besonderheit künstlerischer Flechtwerke liegt in der räumlichen Ausarbeitung der
Fläche. Während des Flechtens wird sie in sich gewölbt, gedreht oder gebogen.
Die plane Fläche wird zu einer räumlich-bewegten Fläche geformt, sie wird zur „Hülle“.
Dabei auf die üblichen flechttechnischen Grundgerüste verzichten zu können, ist
angestrebtes Ziel wie hohe Kunst.
So stellt die Künstlerin eine meterhohe geflochtene Tasche in eine Wiese. Aus etwas
Entfernung wirkt das Objekt witzig und gleicht einem langgezogenen, steifen
Stoffbeutel.
Ein recht kleines, geschlossenes Geflecht mit einer kugeligen Form, einer dichten und
sehr gleichmäßigen Oberfläche mutet wie ein Keramikgefäß an.
Für den Wettbewerb um den baden-württembergischen Kunsthandwerkspreis fertigte
Lore Wild ein „Wassergefäß“ an. Es hat einen Umfang, der mit ausgebreiteten Armen
nicht zu umfassen ist. Es öffnet sich und ist bereit, aufzunehmen oder auszugießen.
Dafür deutet die Künstlerin im Geflecht flache Ausgussöffnungen an. Die Gefäßwände,
gestaltet mit einer links gedrehten Kimme, kräuseln sich wie kleine Wellen. Im Innern
zeigen farbig abgesetzt konzentrische Kreise eine Wasserbewegung an. Die weißen
Schnittflächen der Weidenenden wurden nicht versteckt, sondern sind
Gestaltungsmittel. Sie perlen wie Luftbläschen am Grund der Plastik.
Beispiel aus Lore Wilds Repertoire von Chaosgeflechten ist die als „Schlingel“ bekannt
gewordene transparente wie voluminöse Plastik, die bei der Gartenschau in Mühlacker
an einem Baumstamm über mehrere Meter hinweg in die Höhe rankte. Oder das
Lichtobjekt im Rathaus Oberriexingen, das die künstlichen Lichtquellen bündelt, den
Lichtstrahlen aber jeden nur möglichen Durchschlupf gewährt.
Mit ihren Flechtwerken kehrt Lore Wild in die Bereiche zurück, die als angestammte
betrachtet werden können: die Landschaft und die Architektur.
Kristin Koch-Konz, Januar 2019